In der heutigen Ausgabe der Oberhessischen Zeitung ist ein Leserbrief der Evang. Pfadfinder Vogelsberg erschienen, den wir hier dokumentieren:
Leserbrief zu „Ein Auto pro Minute, und 90 Prozent enden als Matsch“
OZ vom 5. April 2013 (Seite 13)
Mit dem verspäteten Frühlingsbeginn hat nun auch die Krötenwanderung tatsächlich eingesetzt. Schon seit fünf Jahren sind wir Pfadfinder an dieser Stelle im Naturschutz aktiv, reparieren und reinigen Amphibienschutzanlagen, zeigen Kindern Erdkröten und Molche, bemühen uns um Öffentlichkeitsarbeit.
Und wir machen jedes Jahr eine Reihe von Zählungen und Messungen an Landstraßen. Die wichtigste Beobachtung, die man dabei leider machen muss, fehlt als Hinweis in der Mitteilung des Regierungspräsidiums: Dass die meisten Tiere nämlich nicht von Reifen überfahren werden, sondern vom Luftdruck unterm Auto und der nachfolgenden Verwirbelung zerquetscht werden.
Bei einer Geschwindigkeit von maximal 30 km/h sollte jeder Autofahrer Kröten auf der Straße erkennen können. Wenn er in diesem Tempo über sie hinwegfährt, passiert ihnen nichts! Die Angabe, dass schon bei nur einem Auto pro Minute 90 Prozent der Tiere getötet werden, unterstellt also ein völlig unangepasstes Fahrtempo.
Doch genau dafür werden jedes Jahr die Warnschilder aufgestellt. Nur haben unsere Geschwindigkeitsmessungen der letzten Jahre eindeutig gezeigt, dass nicht einmal 10 Prozent der Autofahrer auch nur ein wenig vom Gas gehen. Selbst wenn die Straße schon von Kadavern übersäht ist – keine Reaktion.
Viele Kinder und Jugendliche finden Erdkröten beim ersten Anblick „ekelig“, trauen sich nicht, sie in die Hand zu nehmen. Wenn man ihnen etwas Zeit gibt, die Tiere zu beobachten, sie genau anzuschauen, die leisen Klammerrufe des Männchens zu hören und ihm dabei in seine waagrechten Pupillen zu sehen, dann ändert sich das rapide. Amphibien werden zwar dennoch keine Kuscheltiere, aber mit ihrem Lebenswillen solidarisieren sich alle.
Doch dann erleben unsere Pfadfinder mit 100-prozentiger Sicherheit folgendes Szenario: Sie gehen bei Dunkelheit am Rand einer Landstraße entlang, ihre Taschenlampen erfassen ein Erdkrötenpärchen auf dem Asphalt (das Männchen sitzt auf dem Weibchen). Weil sich bereits ein Auto nähert, ist es ihnen aus Sicherheitsgründen verboten, die Straße zu betreten. Aber weder das Krötenwarnschild, die Pfadfinder mit gelben und orangenen Warnwesten noch der direkt auf die Tiere gerichtete Lichtkegel lassen den Autofahrer erkennbar abbremsen. Er rauscht vorbei, und auf dem Asphalt liegen zwei Kröten, meist rücklings, aus dem Maul guckt eine blutige Zunge, je nach Tempo und Bodenhöhe des Fahrzeugs ist der Bauch des Weibchens aufgeplatzt und der Laich quillt hervor. Mit Fotos davon könnten wir ein ganzes Buch füllen.
Das erlebt man bei einem zweistündigen Einsatz nicht nur einmal, sondern je nach Standort Dutzende Male. Und man fragt sich bei jedem einzelnen Autofahrer wieder: ist das einfach nur Ignoranz, sieht der überhaupt irgendwas auf der Straße, und welche Welt hat er gerade zu retten, dass ihm keine 40 Sekunden bleiben, die er für den kurzen Abschnitt Amphibienschutz bei Tempo 30 länger bräuchte als bei Tempo 100?
Das Fazit ist jedes Jahr aufs Neue erschreckend: Die meisten Autofahrer verhalten sich rücksichtslos (natürlich gibt es die positiven Ausnahmen, Mitmenschen, die anhalten, wenn sie einen Jugendlichen mit Warnweste am Straßenrand sehen und fragen, ob man irgendwie helfen könne). Diese rücksichtslosen Autofahrer fordern damit selbst eine Vollsperrung aller Straßen, die durch die Wanderrouten der Amphibien gebaut worden sind.
Ein vor Zynismus wie Unkenntnis strotzendes Argument von Rasern hören wir jedes Jahr: Es gebe doch genug Erdkröten, sie sind nicht vom Aussterben bedroht – also alles im grünen Bereich. Pflanzen und Tiere, die auf der Roten Liste landen, haben für die Ökologie meist keine Bedeutung (mehr). Der Mensch möchte sie mehr aus musealen Gründen schützen: damit es noch ein paar Exemplare gibt, als lebendes Archiv. Für ein Ökosystem wichtig sind gerade die Tiere, die in Massen vorkommen (weil sie eben massenhaft eine bestimmte Funktion erfüllen).
Und zumindest Kinder und Jugendliche, die sich über Tage oder Wochen um Erdkröten kümmern, finden den individuellen Tierschutzaspekt alles andere als albern: Da hat es eine Kröte geschafft, anders als Tausende ihrer Geschwister vom Ei zur Kaulquappe zum adulten Tier zu werden und mindestens drei Jahre zu überleben, um nun geschlechtsreif geworden selbst an die Fortpflanzung zu gehen. Doch dann sind da zwei Minuten, die das Tier bräuchte, die einzige Straße zum Laichgewässer zu überqueren, und es kommt ein Auto, dessen Fahrer(in) keine 40 Sekunden zu verschenken hat – zack, bum, tot.
Mehr Infos zum Amphibienschutz
[…] Wir suchen immer kurzentschlossene Helfer. Derzeit sind die Kröten (wie üblich) nur im Dunkeln aktiv, bei warm-feuchtem Wetter aber auch am Tage (da sie ohnehin sehr spät dran sind wird die ganze Krötenwanderung wohl binnen einer Woche durch sein). Aufgabe der Helfer ist es, an bestimmten Straßenabschnitten Frosch- und Schwanzlurche einzusammeln und über die Straße zu tragen, Autofahrer zum Langsamfahren zu motivieren, Präsenz zu zeigen… Gestern Abend konnten wir mit nur vier Leuten binnen 2 Stunden über 100 Tiere retten (weil eben bei ungedrosseltem Tempo schon ein Auto pro Minute reicht, um 90 Prozent der Tiere zu töten). […]